Medikamentenmissbrauch nimmt zu Der zu schnelle Griff zur Pille?

Hochdahl · 2,9 Millionen Menschen nehmen so genante „problematische Medikamente“ - außerhalb der Verschreibung, in hohen Dosen und ohne Rezept. Sie konsumieren also verschreibungspflichtige Wirkstoffe missbräuchlich. Wir haben uns mit Norman Raulf von der Suchthilfe BIZ der Diakonie im Kirchenkreis Düsseldorf-Mettmann in Hochdahl über das Thema einmal genauer unterhalten.

Norman Raulf, Leiter der Suchthilfe BIZ der Diakonie im Kirchenkreis Düsseldorf-Mettman in Hochdahl, im Gespräch mit dem Lokal Anzeiger Erkrath.

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1996 wurden 129 Millionen solcher Medikamente verschrieben; 2020 waren es bereits 446 Millionen. Die Rede ist von Opiat-Schmerzmitteln und Benzodiazepinen, also rezeptpflichtige Beruhigungs- und Schlafmittel. Neuartige Schlafmittel mit einem ähnlichen Einsatzspektrum wie Benzodiazepine sind sogenannte Z-Substanzen wie Zolpidem, Zopiclon oder Zaleplon. „Die Zahl der psychischen Erkrankungen ist gestiegen“, sagt uns Norman Raulf. „Auch die Sensibilität dafür hat in unserer Gesellschaft zugenommen und man spricht das Thema schneller beim Arzt an, wenn man die Vermutung hat, dass man selbst betroffen ist.“

Die Crux an der Sache: Es gibt in Deutschland immer weniger Fachärzte im Bereich der Psychiatrie und Psychologie, weshalb die Wartezeiten auf einen Praxistermin dort sehr lang sind. Viele Hausärzte haben hingegen zu wenig Erfahrung auf dem Gebiet. Werden deshalb solche Medikamente zu leichtsinnig und zu schnell durch mangelende Kenntnis seitens der Mediziner verschrieben? Vielleicht - und es besteht die Gefahr, dass die Patienten, denen man solche Medikamente verschreibt, nicht entsprechend engmaschig betreut werden.

Wie wirken Benzodiazepine und in welchen Fällen werden sie eingesetzt? Sie werden vom Arzt zeitlich begrenzt gegen Einschlaf- und Durchschlafstörungen, Angstzustände, Panikattacken, Epilepsie und zur Muskelentspannung verschrieben. Manche von uns haben vielleicht schon mal Kontakt zu solchen Tabletten, beispielsweise kurz vor einer OP, gehabt, weil sie manchmal zur Narkoseeinleitung eingesetzt werden. Benzodiazepine sind unverzichtbare Medikamente für akute Gesundheitsrisiken, müssen jedoch mit maximalem Augenmaß verordnet werden, denn ihr Suchtpotenzial ist enorm hoch. Laut der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen e.V. (DHS) „bekommt etwa jeder 20. gesetzlich Krankenversicherte mindestens einmal jährlich ein Medikament aus der Gruppe der Benzodiazepine oder Z-Substanzen verschrieben. Bei rund einem Drittel der Patienten gehen diese Verordnungen teilweise weit über die regelkonforme Einnahmedauer hinaus - und Privatrezepte verschleiern oft die Langzeitverordnung. Weil der Zugriff auf diese problematische Substanzengruppen so einfach ist, haben etwa 1,2 bis 1,5 Millionen Menschen in Deutschland eine Abhängigkeit entwickelt. Die meisten von ihnen sind weiblich und älter.“ Benzodiazepine funktionieren mit der sogenannten körpereigenen GABA (Gamma-Aminobuttersäure). Die DHS erklärt hierzu: Die Gamma-Aminobuttersäure hat in unserem Zentralnervensystem die Funktion, die Nervenzellen zu hemmen, sie also letztlich zu beruhigen. Bindet nun ein Benzodiazepin an den entsprechenden GABA-Rezeptor, verstärkt sich der natürliche Beruhigungseffekt. Gleichzeitig vermindern sich die bewusste Wahrnehmung und die Gefühlsintensität. Diesen Effekt macht sich die Medizin bei Angststörungen, Spannungszuständen, Phobien und Panikattacken zunutze.

Wie wirken Opiat-Schmerzmittel und in welchen Fällen werden sie eingesetzt? Sie sind Medikamente zur Linderung von Schmerzen. In Form von Opiaten oder Opioiden haben sie eine sehr starke Wirkung und werden deshalb in der Regel beispielsweise bei Tumor-, Amputations- oder Nervenschmerzen eingesetzt. Für viele Schmerzpatienten bieten diese Medikamente die einzige Chance auf ein lebenswertes Leben - allerdings haben auch sie ein hohes Suchtpotenzial. Das DHS beschreibt die Wirkung von Opiate beziehungsweise Opioide wie folgt: Treffen im menschlichen Organismus Stress- oder Schmerzreize ein, werden sofort körpereigene Opioide, sogenannte Endorphine, freigesetzt. Diese docken an spezialisierte Rezeptoren im Nervensystem an und hemmen damit die Übermittlung von Schmerzimpulsen ans Gehirn. Dem Körper ist es jedoch egal, woher die Botenstoffe kommen, die sich an seine Rezeptoren setzen. Deshalb erfüllen Schmerzmittel aus der Familie der Opiate und Opioide denselben Zweck.

Wenn also diese Medikamente in manchen Fällen zu schnell verschrieben werden, die Patienten während der Einnahme nicht ausreichend kontrolliert werden, sowohl bei Benzodiazepinen als auch bei Opiat- und Opioid-Schmerzmitteln ein hohes Suchtpotenzial und eine ebenfalls sehr hohe Entzugssymptomatik besteht, fällt der Blick automatisch auf die Frage „Greifen wir vielleicht selber zu schnell zu irgendwelchen Pillen?“ Diese Frage ist nicht einfach zu beantworten und es ist hilfreich und notwendig, dass Ärzte nach der Verschreibung auch über das Absetzen mit ihren Patienten sprechen. „Wir leben in einer Gesellschaft, in der es nun mal leicht ist, zu irgendwelchen Tabletten zu greifen“, sagt Norman Raulf. „Das beginnt schon bei vermeintlich harmlosen pflanzlichen Mitteln wie beispielsweise Baldrian gegen Schlafstörungen, geht über Globulis bis hin zu starken Medikamenten.“ Ob der Griff zur Tablette immer unbedingt nötig und das erste Mittel der Wahl ist, ist die große Frage.

Laut DHS ist es sehr einfach, mit einer Krankengeschichte von beispielsweise Schlaf- oder Angststörungen Benzodiazepine oder Z-Substanzen verschrieben zu bekommen. Die risikoarme Einnahmedauer von maximal vier Wochen wird jedoch, wie bereits erwähnt, oft überschritten; manche Ärzte verordnen die Medikamente weitaus länger, zunehmend auch auf Privatrezept - etwa um lästige Fragen der Krankenkassen zu vermeiden.

„Viele von uns haben den Bezug zu sich und ihren Körpern verloren. Statt sich mit der eigentlichen Problematik auseinanderzusetzen und sie an der Wurzel zu packen, wird sie einfach mit dieser oder jener Tablette schnell weggedrückt.“ Zahlen und Fakten gefällig? Laut der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen e.V. nimmt etwa jeder 20. Bundesbürger im Alter zwischen 18 bis 64 Jahren täglich ein leicht oder stark wirkendes Schmerzmittel ein, jeder Fünfte wöchentlich. Annäherend jeder Zehnte nutzt Schmerzmittel missbräuchlich und jeder 30. ist per Definition laut ICD-10 (weltweit gültiges medizinisches Diagnosesystem zur Klassifikation von Krankheiten) abhängig.

Medikamentenmissbrauch durch Beruhigungs-, Schlaf- oder Schmerzmittel zieht sich durch fast alle Altersgruppen. Leider sind auch immer mehr Jugendliche davon betroffen. Entweder bekommen sie diese durch eine bestimmte Diagnose vom Arzt verschrieben oder sie gelangen durch Freunde an die gefährlichen Substanzen, um deren berauschende Wirkung einfach mal auszuprobieren. Zum „Russisch Roulette“ mutieren solche Versuche, wenn die Substanzen auch noch gemischt werden. Die gleichzeitige Einnahme von Benzodiazepinen, Opioiden, Alkohol und weiteren Drogen kann zu einem Atemstillstand führen.

Suchtberatungen in Deutschland berichten darüber, dass das Medikamentenproblem und der Wunsch nach Dämpfung seit der Pandemie, stark zugenommen hat. Das kann auch Norman Raulf bestätigen und ergänzt: „In unserer Gesellschaft herrscht große Unsicherheit gegenüber der Zukunft. Viele - auch junge Menschen - fühlen sich ihren Ängsten ausliefert und der ungefilterte Konsum von Social Media tut in diesem Fall sein Übriges und verstärkt dieses Ohnmachtsgefühl der Angst.“ Nicht jeder schafft es, sich bewusst damit auseinander zu setzen und einen gesunden Ausweg aus dieser Situation zu finden. Der Griff zu Tabletten, Alkohol oder anderen Rauschmitteln ist dann für manche der bequemere Weg, der zu einer angeblich schnelleren ‚Lösung‘ führt. Denken wir nur daran, wie viele Menschen in Deutschland allein jeden Abend das bekannte „Feierabend-Bier“ zum Abschalten zu sich nehmen...

Was können Eltern nun tun, die das Gefühl haben, dass ihre Kinder ein Suchtproblem haben? Bei welchen Vorzeichen sollten sie hellhörig werden? „Wenn mein Kind plötzlich ein anderes Freizeitverhalten zeigt, mit anderen (neuen) Freunden Zeit verbringt oder man irgendwelche Tablettenblister findet, sollte man das Gespräch mit dem Nachwuchs suchen.“ Damit dieser nicht sofort bei den ersten verdächtigen Fragen dicht macht, ist es wichtig, auf Augenhöhe miteinander zu sprechen und als Einstieg zunächst allgemein zu bleiben. „Einfach mal grundsätzlich nachfragen, was sind die Themen im Freundeskreis, wo trifft man sich, sind Drogen dabei im Spiel und vielleicht auch mal aus seiner eigenen Jugend berichten und sich so vorsichtig und vertrauensvoll herantasten.“

Auch die Suchthilfe BIZ der Diakonie im Kirchenkreis Düsseldorf-Mettmann in Hochdahl, Hauptstraße 9, kann helfen - Betroffenen und Angehörigen. Die Sprechzeiten in Erkrath sind montags von 9 bis 12 Uhr in Form einer offenen Sprechstunde ohne Terminvereinbarung. Weitere Sprechstundetermine am Nachmittag gibt es per Telefon unter 02104/47171. Weitere Informationen gibt es auch im Internet auf www.diakonie-kreis-mettmann.de/suchtberatung.

(nic)